Unsere Wahrnehmung formt die Sprache, die wir benutzen. Die Linguistin Sarah Thomason schreibt über Montana Salish, eine Sprache, die noch etwa hundert Personen aus Spokane Indian Reservation sprechen:
The word they use for automobile means “that it has wrinkled feet,” [..] If you’re a tracker, you’re going to be noticing the tire tracks — the focus of that particular word.
And the word for telephone means “you whisper into it.”
Dass die Beschreibung der körperlichen Auswirkung eines Objekts als Bezeichnung für dieses Objekt verwendet wird, ist nicht einmalig. Im Deutschen sagen wir ja auch Fernseher oder, immer seltener, Fernsprecher. Hier zeigt sich in der Sprache, wie die technischen Lösungen unsere Sinne erweitern, und - vielleicht - ersetzen.
In Understanding Media beschreibt der Medientheoretiker Marshall McLuhan die Entwicklung der Medien und ihr Verhältnis zum menschlichen Körper:
Any invention or technology is an extension or self-amputation of our physical bodies, and such extension also demands new ratios or new equilibriums among the other organs and extensions of the body. (S. 55)
Das Equilibrium zwischen dem Körper und seinen Erweiterungen muss also ständig neu verhandelt werden.
Seit McLuhan sein Werk 1964 verfasste, entwickelte sich aus den Medien Radio, TV, Telefon und Telegraf, auf die er sich bezog, ganz neue Generationen von Medien. Wie gehen diese Medien mit unseren Körpern um?
Um diese Frage zu beantworten habe ich die Beziehung des Körpers zum Medium in verschiedenen Themenbereichen untersucht:
- Beziehung und Objekt
- Sprachsteuerung
- Händigkeit
- Augenbewegungen
- Körperliche Expressivität
- Virtual Reality
- Mentale Gymnastik
- Eigenbewegungen
- Atmung und Rhythmus
- Politik der Körper und
- Die Wärme der Maschinen
Beziehung und Objekt
Peter Sloterdijk beschreibt in seinen Sphären den Urzustand einer Zweisamkeit, einer Ganzheit, die der Mensch vor der Geburt in seiner Verbindung mit der Plazenta erfährt. Die Plazenta gehört weder dem Kind noch der Mutter an, versorgt aber das Kind mit allem was es braucht.
Während in manchen Kulturen die Plazenta und die Nabelschnur rituell beerdigt oder zu Halsketten verarbeitet werden, die der Mensch weiterhin als Zeichen seiner fortlaufenden Verbindung trägt, werden in der westlichen Welt die Artefakte der Geburt nicht geehrt. Der Mensch wird also aus seiner ersten Ur-Sphäre gerissen, ohne einen Ersatz zu bekommen. Bis er sein erstes Smartphone bekommt.
Ein Smartphone ist ein flaches Objekt aus Metall, Plastik und Glas, meist etwas kleiner als eine menschliche Plazenta. Ein Smartphone trägt man mit sich, man streichelt die glatte, kalte Glasoberfläche mit den Fingern, und im Gegenzug verbindet das Smartphone einen mit der Außenwelt, verspricht Sicherheit (sollte was passieren) und soziales Kapital (sollte was passieren, kann man es filmen). Wie die Plazenta befriedigt es die wichtigsten Bedürfnisse, wie die Plazenta ist es immer da zwischen dir und der Welt, wie die Plazenta ist nicht die Form entscheidend, sondern der zu erwartende Inhalt - die Bestätigung und Aufmerksamkeit des gefilterten Gegenübers. Wer erinnert sich nicht, mehrmals gedankenlos auf den leeren Bildschirm geschaut zu haben? Das war sie, die Erwartung einer grundlosen und bedingungslosen Anerkennung und Wahrnehmung.
So geht man tatsächlich eine Beziehung mit dem Smartphone ein, einem ausgelagerten Organ welches zwischen dem Nutzer und der Welt steht und weder gänzlich dem Nutzer noch der Welt zuzuordnen ist.
Wenig überraschend ist damit die erhöhte Smarphone-Nutzung bei Menschen mit verringerter Kontrollüberzeugung, also bei Menschen, die nicht das Gefühl haben, Kontrolle über die in ihrem Leben auftretenden Ereignisse zu haben.
Die Beziehung ist so bedeutsam, dass man sein Smartphone auch mit einem gebrochenen Display benutzen will. Es gibt kaum einen anderen Anlass, liebevoll mit den Fingern über Glassplitter zu streichen. Als Mutprobe hat sich auch das Extreme Phone Pinching viral verbreitet. Dabei soll das Smartphone mit zwei Fingern über einer Gefahrenquelle - meist über tiefen Schluchten oder Wasser - gehalten werden. Die Gefahr für ausgelagerte Organe bereitet echten Nervenkitzel - als würde man sich selbst in Gefahr begeben.
Sprachsteuerung
Neben dem Touch-Interface bezieht man sich zu der elektronischen Plazenta mit Sprache. Seit Siri 2011 auf iOS Geräten erschienen ist, kann man nun mit fast allen Smartphones eine Unterhaltung führen.
Die Spracheingabe wird als der nächste große Durchbruch deklariert und erlaubt tatsächlich die Konstruktion komplexer Befehle in einem einzigen Satz.
Was passiert jedoch mit unserer Stimme, wenn wir mit einer Maschine sprechen?
Ein menschlicher Gesprächspartner kann schon mitten im Satz Feedback geben durch Mimik, Gestik oder Sprache. Die Maschine kann es noch nicht, sie wirkt wie eine undurchsichtige, magische box, die ihren Denkprozess nicht offenbart. Die Interpretationsfähigkeiten wachsen täglich, und doch muss der Nutzer die Formulierungen und Ausdrücke, die zum Erfolg führen erst erlernen. Die Grenzen und Möglichkeiten des Sprachinterface sind nicht leicht zu entdecken.
Eine weitere Einschränkung der Spracheingabe ist die eigentliche Spracherkennung. Damit man richtig verstanden werden kann muss man klar, deutlich, langsam und ohne Akzent oder Dialekt sprechen. Am besten auch noch in einer ruhigen Umgebung.
Stimme ist ein soziales Instrument, und die Beziehung zwischen den Parteien bestimmt die Nutzung der Stimme. Klares, langsames Sprechen in Hochdeutsch ist für den Umgang mit Höhergestellten vorgesehen. Der gleiche Umgang wird jedoch von der Maschine durch technische Mängel erzwungen. Wer nicht höflich zu seinem Smartphone ist, wird ignoriert.
Verlust der Händigkeit
Es gibt verschiedene Theorien, warum die meisten Menschen nicht Ambidexter sind, sondern eine dominante Hand haben. Eine davon heißt Asymmetric Division of Labor in Human Skilled Bimanual Action und besagt, dass bei beidhändiger Arbeit die Aufgaben der Hände sich oft unterscheiden: während die dominante Hand feine Bewegungen ausführt, unterstützt die nicht dominante Hand durch Halten oder Nachjustieren.
Durch diese Spezialisierung entstehen Vorteile, die im Laufe der Zeit zu einer präferierten Händigkeit führen.
Das letzte geblieben Computerinterface, für welches die feinmotorischen Fähigkeiten der dominanten Hand relevant sind, ist wohl die Maus oder Trackpad. In der Entwicklung der mobilen Geräte gab es einen Zeitabschnitt - von den frühen 2000 bis zum ersten iPhone 2007 - in dem das Touch-Interface zwar existent, ohne einen Eingabestift jedoch nicht bedienbar war. Der iPhone mit seinem Verzicht auf zusätzliche Eingabegeräte verlor zwar so manche Funktionalitäten, die bei PocketPC und Palm Pilots vorhanden waren (Handschrift-Erkennung!), dominierte jedoch den Markt und bestimmte für Jahrzehnte das Paradigma der mobilen Interfaces.
Kleine, leichte Geräte mit Touch-Interface, deren Arbeitsfläche mit der Anzeigefläche übereinstimmt, brauchen keine Spezialisierung der Hände. Ein Smartphone kann man in einer Hand halten und es mit derselben bedienen. Größere Tablets kann man mit beiden Händen halten und mit beiden bedienen, da die Interfaces recht fehlertolerant sind und keine feinmotorischen Leistungen vom Nutzer abverlangen.
Die aktuelle Entwicklung zeigt wieder einen Trend zur Hybridisierung der Interfaces: Microsoft Surface Pro hat ein Touch-Interface, ein Stylus und eine Hardware-Tastatur; Apple’s iPod Pro hat einen Stift und Microsoft Surface Studio sowie Dell Canvas kombinieren Stift-, Touch-, und Eingabe über Hardware-Drehregler mit großformatigen Displays.
Auch wenn für bestimmte Arbeitsvorgänge feinmotorische Eingaben über Maus oder Stift nach wie vor unverzichtbar sind, scheint der Zwang zur Spezialisierung der Hände geringer zu werden. Es bleibt zu sehen, ob es statistisch signifikante Unterschiede in der Händigkeit und ihrer Ausprägung mit sich bringen wird.
Übermacht der Displays
Der Blick auf die Bildschirme um uns herum hat meist einen Winkel 25 bis 30 Grad. Sicher, die Displays haben unterschiedliche Größen, doch sie werden aus unterschiedlichen Entfernungen betrachtet, sodass der Betrachtungswinkel ähnlich bleibt. Die Kinosäle dagegen werden meist nach THX-Empfehlungen gebaut, die einen Blickwinkel von mindestens 40 Grad vorschlagen.
Bei vielen Displays - kleinen und großen - können wir die räumliche Position bestimmen. Dabei und entscheiden wir uns meist für das logischste: wir stellen, hängen oder halten sie direkt vor uns. Vielmehr als bei den ‘Naturvölkern’ ist unser Blick punktuell nach vorne gerichtet - wir schauen nicht in die Ecken oder mal nah mal fern - denn da gibt es nichts, was uns interessiert. All das, was uns interessiert ist auf einer kleinen Fläche direkt vor uns auffindbar. So werden wir zur fokussierten, rückenlosen Tieren, die geradlinig in die Zukunft schreiten.
Ob eine freiwillige Einschränkung des Sichtfeldes auf einen 25° Winkel Nachteile mit sich bringt, ist mir nicht bekannt. Nachgewiesen ist jedoch, dass in Personen mit affektiven Störungen die Sakkaden-Rate (schneller Blickwechsel) geringer ausfällt. In Eye movement analysis for depression detection hat man die (verringerte) Rate der Augenbewegungen zur Diagnose von Depressionen verwendet, mit 70-75% Genauigkeit. Mehr noch, es existiert eine Therapie namens Eye movement desensitization and reprocessing (EMDR), die zur Behandlung von Depressionen eingesetzt wird. Diese Therapierform folgt dem AIP (adaptive information processing) Modell, welches besagt, dass unverarbeitete und dysfunktional gespeicherte Erinnerungen als Quelle für psychische Störungen wie PTSD, Angststörungen und Depressionen dienen können. Diese Erinnerungen gilt es nun ins Kurzzeitgedächtnis zu holen und zu verarbeiten, und EMDR erreicht es durch laterale Augenbewegungen, die vom Therapeuten im Gespräch veranlasst werden und die Speicherung von Erinnerungen fördern sollen.
Eine Studie zu EMDR fand eine deutlich höhere Erfolgsrate von üblicher Behandlung unterstützt durch EMDR im Vergleich zu ausschließlich üblicher Behandlung. Eine Metaanalyse der Studien bestätigte die Verbindung zwischen Augenbewegungen und der Verarbeitung emotionaler Erinnerungen.
Es wäre zu diesem Zeitpunkt pure Spekulation zu behaupten, dass durch unsere freiwillig eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Augen die normale Verarbeitung emotionaler Erfahrungen gedrosselt wird. Sollte es sich jedoch als signifikanter Faktor herausstellen, wäre es eine folgenreiche Erkenntnis, und könnte als Warnung darüber dienen, was passieren kann, wenn man - ganz nach McLuhan - die eigenen Organe zugunsten neuer Technologien amputiert.
Körperliche Expressivität
Es scheint logisch zu sein, dass die Expressivität in der Kommunikation erst ganz am Ende des Weges - bei der Übermittlung der Nachricht an den Empfänger - sichtbar wird. So lacht man nicht laut auf, wenn man lol (laughing out loudly) schreibt und man lächelt nicht zwingend, wenn man ein Smiley der Nachricht anhängt. Es wird zur Aufgabe des Empfangsgeräts diese Expressivität zu erraten und zum Ausdruck zu bringen, z.B. wie der Facebook Messenger beim Empfänger Konfetti ausschüttet, wenn man “congrats” schreibt.
Verwendet man zur Kommunikation moderne technische Hilfsmittel wie Smartphone oder PC, wird die eigene körperliche Expressivität unnötig, da sie nicht von der Maschine erfasst wird und nicht beim Empfänger ankommt. Das Interface der Geräte ist zweidimensional, und nur durch minimale Fingerbewegungen bedienbar. Auf diese Fingerbewegungen wird der körperliche Ausdruck auch reduziert.
Das führt dazu, dass der Körper beim Schreiben einer freundlichen Nachricht, eines Beschwerdebriefes oder einer Liebeserklärung die gleiche Position einnimmt und die gleichen Bewegungen ausführt.
Genauso verhält es sich mit der Wahrnehmung der Nachrichten: da die körperliche Reaktion nicht übermittelt wird, wird sie nach und nach vernachlässigt - schließlich ist es auch gesellschaftlich nicht üblich, sein Handy anzuschreien oder zu küssen.
Dank der ausgelagerten, elektronischen Organe gehen die mit Nachrichten verbundene Emotionen aus starren, regungslosen Körpern aus und kommen in genauso starren regungslosen Körpern an.
Ein interessantes Phänomen ist das hin und her laufen während eines Telefonats, das viele Menschen unbewusst praktizieren. Ohne eine Studie dazu gefunden zu haben scheint es mir, dass ein ans Ohr gedrücktes Gerät viel mehr körperliche Ausdrucksfreiheit erlaubt, als ein Gerät, das ständige visuelle Verbindung erzwingt. Ein herumlaufen beim Lesen von E-Mails scheint höchst unpraktisch zu sein, passiert dem Autor bei besonders aufregenden Nachrichten trotzdem.
Ein Kommunikationsmedium das den Körper stärker einbezieht ist die Gebärdensprache. Die Gebärdensprachen sind nicht von Lautsprachen abgeleitet, sondern sind eigenständige Sprachen. Die sinnfreien Einheiten (Phoneme) werden zu sinntragenden semantischen Einheiten kombiniert. Die Eigenschaften dieser Kombination - die Reihenfolge, die Handform, Handstellung, Ausführungsbereich und die Bewegungsausführung bestimmen den Inhalt der Mitteilung. Vielmehr als gesprochene Sprachen können Gebärdensprachen die Nachricht simultan über mehrere Wege übermitteln, da sie die gesamte Ausdruckskraft des Körpers und der Körperbewegungen in drei Raumdimensionen einsetzen.
Beim Menschen ist die Gebärdensprache wenig verbreitet, ist nicht universell und hat viele Variationen und Dialekte. Eine interessante Ausnahme war Martha’s Vineyard eine Insel in der Nähe von Boston: durch vererbte Gehörlosigkeit waren 1850 vier Prozent der Population taub, und so hatte die gesamte Bevölkerung eine eigene Gebärdensprache entwickelt und gesprochen.
Gebärdensprachen könnten vielleicht auch in Zukunft wieder öfter eingesetzt werden - ein Studententeam von MIT hat SignAloud entwickelt: Handschuhe, die ASL (American Sign Language) in gesprochenes Wort umsetzen.
Virtual Reality
Die vielen Versuche, Geräte für die Virtuelle Realität zu entwickeln scheinen endlich erschwingliche, gut funktionierende Lösungen erbracht zu haben.
Die Immersion ist so gut, dass die virtuelle Realität die körpereigene Wahrnehmung (Proprioception) täuscht.
Neben einem zu tiefen Eintauchen in die virtuelle Welt, wird auch über das Gefühl von Derealisierung berichtet. Die Übertragung von Körperbewegungen in die virtuelle Welt ist technisch immer noch nicht ganz präzise, sodass es zu leichten Verzögerungen und Ungenauigkeiten in der Darstellung von Kopf- und Handbewegungen kommt. Der Körper kalibriert sich nach einiger Zeit auf diese neue Wahrnehmung, und ist nach dem Ende der VR-Session überrascht über die erneute Veränderung in der Hand-Auge-Koordination.
Eine Studie im Bereich Cyberpsychologie bestätigt diese Ergebnisse in dem Paper Virtual Reality Induces Dissociation and Lowers Sense of Presence in Objective Reality. Das könnte den geplanten Einsatz von VR bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen durch das Durchspielen verschiedener Szenarien gefährden.
Trotz der körperlichen Effekte der Disbalance und der Dissoziation hat VR viel Potenzial, was die stärkere Einbindung des Körpers in Kommunikation und Arbeitsalltag angeht. Facebook, ein mit Oculus Rift wichtiger Spieler auf dem VR-Markt, hat eine Demo zur Zukunft der Kommunikation präsentiert.
Hier wird die Körperposition, Gestik und Mimik ausgelesen und direkt in comichafte Charaktere umgewandelt.
Der Nachbau der realen Welt fühlt sich zwar einfallslos und geradlinig an, sicherlich werden aber VR-spezifische, dem Medium gerechte Ausdrucksweisen mit der Zeit entwickelt.
Mental gymnastics
Eine Studie aus dem Jahr 2014 hat gezeigt, dass schon allein das Denken an körperliche Abläufe die Muskeln aktiviert.
In der Studie wurden die Handgelenksmuskeln durch Immobilisierung geschwächt, wobei eine Versuchsgruppe sich täglich eine starke Beanspruchung der Muskeln vorstellen sollte. Diese Gruppe hatte, verglichen mit Versuchspersonen, die keine mentale Gymnastik gemacht haben, einen 50% geringeren Kraftverlust.
Die Memes, die sich über soziale Netzwerke verbreiten, haben viele verschiedene Themen. Die meisten reagieren auf aktuelle Ereignisse oder imitieren soziale Situationen. Eines der Themen könnte man unter den Titel “Erinnerst du dich an das Gefühl, wenn..” zusammenfassen. Ein paar Beispiele:
Diese Memes zeigen die Situation eines spezifischen körperlichen Erlebnisses, und erzeugen beim Betrachter - wenn man die Ergebnisse der Studie extrapoliert - eine tatsächliche, körperliche Wiederholung der Erfahrung.
In einem an körperlichen Erfahrungen armen, bildschirmgefüllten Alltag können sie eine starke Wirkung haben. Die Memes werden weiter geteilt und erreichen ein simultanes, ortsversetztes hochziehen der Schultern - nur weil man sich vorgestellt hat, man würde auf den Nacken geküsst werden.
Eine Sonderkategorie (und Meiserleistung) der Memes ist die körperliche Erfahrung in Verbindung mit sozialen Folgen:
Eigenbewegung des Körpers
Die meisten uns umgebenden Objekte gehen von einem bewegungslosen Körper aus. Von einem Benutzer, dessen Körper still ist und ausschließlich beabsichtigte Bewegungen korrekt ausführt. Die ganzen unbeabsichtigten, unfreiwilligen Eigenbewegungen des Körpers wie Dehnen, automatischer Positionswechsel, Gähnen, Niesen, Zittern usw. werden nicht in den Überlegungen des Produktdesigns berücksichtigt.
Stimming - ein englischer Begriff für unfreiwillige Selbststimulierung der Sinne, wird meist im Bezug auf Menschen mit Autismus verwendet. Aber auch so häufig verbreitete Bewegungsabläufe wie mit dem Fuß wippen, Summen, oder mit kleinen Objekten herumfuchteln gehört dazu. Die Funktion von Stimming ist, wie uns Ask an autistic erklärt, dreifaltig: es dient der Selbstregulierung bei überwältigendem sensoriellen Input, als Sinnesgenuß und als Selbstausdruck.
Nicht nur werden jegliche Formen von Stimming durch die Erziehung und Schulsystem ausgemerzt - die meisten Arbeitsumgebungen sind Stimming-unfreundlich: entweder muss man aus sozialen Gründen leise sein und ruhig sitzen, oder die Objekte um einen herum lassen keine Zweckentfremdung zu. Es gibt Hersteller von Stimming-freundlichem Schmuck und Spielzeug, wie z.B. All Things Sensory, die spezielle Objekte zum kauen, dehnen, drehen und fühlen anbieten.
Elektronische Geräte wie Laptops und Smartphones sind für Stimming ausgesprochen ungeeignet - sie sind meist richtig teuer, bestehen aus Metall und Glass und gehen leicht kaputt. Das Stimming geschieht hier digital - durch ziellose Mausbewegungen, Klicks oder Auswählen ganzer Textpassagen.
Eine kleine App namens IOGraphica hilft, die Mausbewegungen zu visualisieren. Damit kann man den täglichen Mauszeiger-Lauf besser studieren und sich über abstrakte Malerei als Nebenergebnis eigener Arbeit freuen.
Ich habe das Thema der Eigenbewegungen in Terra Trema – in einer Kollaboration zwischen der Handbewegung des Fotografen und dem Algorithmus des iPhones. Um ein Panorama mit einem iPhone zu erstellen, muss man das Handy langsam und vorsichtig entlang der x-Achse drehen. Ganz gleich wie ruhig die Hände zu sein scheinen, die Bewegung ist nie perfekt. Der Algorithmus versucht diese Imperfektion zu verbergen und die Ergebnisse sehen plausibel aus. Erst wenn man die Bilder übereinander legt, wird das Zittern der Hand sichtbar.
Atmung und Rhythmus
Der Arbeitsalltag einer postindustriellen Gesellschaft hat wenig rhythmusgebende Signale. Die Jäger und Sammler hatten das kontinuierliche Laufen; die Landwirtschaft, Handwerk und die Fabrikarbeit waren von den sich wiederholenden Bewegungsabläufen strukturiert. Das Sitzen, Stehen oder Liegen vor einem Bildschirm beinhaltet keinen Rhythmus.
Mit einem vorgegebenen Rhythmus muss man sich weniger entscheiden. Es ist ein externer Prozess, dem man sich angliedern kann, und von diesem wie von einer Welle getragen wird. Rhythmusgebende Arbeitslieder gab es in allen Kulturen - sie machten die lange, schwere Arbeit erträglicher.
In den Dokumentaraufnahmen aus dem Jahr 1966, Afro-American work songs in a Texas prison ist es besonders gut zu sehen.
Die Tradition der Arbeitslieder ist in der postindustriellen Welt gänzlich verschwunden. Trotzdem wird Musik oft als tragendes, rhythmusgebendes Element eingesetzt. NYTimes berichtet positiv über Musik am Arbeitsplatz:
People’s minds tend to wander, “and we know that a wandering mind is unhappy,” Dr. Sood said. “Most of that time, we are focusing on the imperfections of life.” Music can bring us back to the present moment.
In einer Studie zu respiratorischen Rhythmen wurde gezeigt, dass die Gehirnregionen Amygdala (unter anderem für die Angstreaktion zuständig) und Hippocampus beim Ein- und Ausatmen unterschiedlich aktiviert werden. Diese Regionen werden beim Einatmen durch die Nase viel stärker aktiviert, als in der Phase des Ausatmens. So war die Reaktionszeit der Versuchspersonen, die ein erschrecktes Gesicht erkennen sollten, beim Einatmen deutlich kürzer. Der Atemrhythmus hat also Einfluss auf unsere Wahrnehmung.
Diese Erkenntnisse würden die Grundlage liefern für die beruhigende Wirkung von auf Atmung konzentrierter Tätigkeiten wie Joggen, Meditation oder Yoga. Der moderne Arbeitsalltag, der den Rhythmus der Bewegungen und des Atmens nicht vorgibt ist vielleicht auch der Grund für die steigende Beliebtheit dieser Praktiken.
Politik der Körper
Die großen Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts beanspruchten für sich die Macht, die Körper der Bürger zu formen. Man sollte einem recht klar definierten Ideal entsprechen in Fitness und Aussehen.
In Gesellschaften mit kollektivistischen Werten, wie Japan oder China, gelten diese Normen immer noch. So hat Japan 2008 ein Gesetz erlassen, nach dem jährlich der Taillenumfang aller Bürger über 40 gemessen werden soll, mit Strafen für Lokalitäten und Unternehmen, deren Bewohner und Arbeiter überdurchschnittlich dick sind.
Die postindustrielle westliche Gesellschaft übt keinen direkten Druck auf den Körper aus. Der Individualismus als tragendes gesellschaftliches Konzept toleriert kein ideales, von allen angestrebtes Körperbild. Doch es gibt weitere Kräfte, die beeinflußen, welches Körperbild möglich wäre.
So wie der Besitz der Produktionsmittel die Machtverhältnisse bestimmt, so bestimmen die Produktionsmittel unsere Körper. Die Bewegungsabläufe von Taxifahrern, Lehrern, Architekten, Verkäufern, Fabrikarbeitern und Managern sind unterschiedlich, beanspruchen unterschiedliche Muskeln und verharren in verschiedenen Haltungen. All das macht sich nach jahrelanger Arbeit körperlich bemerkbar.
Dieser Unterschied geht jedoch seit Jahren zurück: immer mehr wird schwere körperliche Arbeit automatisiert und immer stärker werden die gleichen Erweiterungen des Körpers - wie Laptops oder Smartphones - in verschiedensten Berufen eingesetzt. Mit der Angleichung der im Beruf eingesetzten Körpererweiterungen werden auch die Körper angeglichen.
Selbst in Abwesenheit direkter politischer Einwirkung führt der totale Einsatz der technologischen Körpererweiterungen zu einer Homogenisierung der biologischen Körper.
Die Wärme der Maschinen
Bei all der mechanischen Kälte der Maschinen, all ihrem strengen, durchdesignten Minimalismus umgeben sie uns doch mit Wärme. Mit der Wärme der sich entladenden Akkus, mit der Wärme der beanspruchten Chips. So zeigen sie, dass sie für uns da sind - für uns rechnen, ausführen, verarbeiten. Wir gehen mit dieser Wärme und mit den lauter werdenden Kühlern verständnisvoll um. Wir haben der Maschine eine Aufgabe gegeben und jetzt strengt sie sich an.
Es ist wohl das am meisten unterschätzte subtile Signal, das eine Maschine senden kann.
Wärme ist eine solch animalische Eigenschaft, dass es schwerfällt, die Maschinen nicht als lebendig zu betrachten. Sind sie eingeschaltet, so wird ihr Körper warm, man spürt die vibration der inneren Bewegung, man spürt die Anstrengung, mit welcher sie versuchen die Aufgabe zu lösen, die wir ihnen gestellt haben.
Computerchips werden immer energieeffizienter, und so beginnen die subtilen Signale von arbeitenden Maschinen – das Surren der Lüfter und der Festplatten, die Wärme des Maschinenkörpers – zu verschwinden. Dieses Verschwinden bringt nicht nur einen Verlust an interaktivem Feedback (wie ungeplant und zufällig dieses Feedback auch war) mit sich, sondern auch einen Verlust der Maschine als Körper.
Cloud Computing ist ein weiterer Trend, der die Ausdrucksfähigkeit von Computerkörpern einschränkt. Da immer mehr Rechenleistung in zentrale Rechenzentren verlagert wird, werden aus Computern thin clients: Ihre Berechnungen werden in die Cloud ausgelagert, sie strengen sich weniger an und erzeugen so weniger Wärme. Stattdessen wird die Wärme, die sie früher selbst erzeugt hätten, in großen, industrialisierten Serverfarmen aufgefangen. Diese Farmen sind weit entfernt von grünen Wiesen und bestehen aus lauten, fensterlosen Räumen. Die Wärme der Server, auf engstem Platz untergebracht, wärmt uns nicht.
Zusammengefasst
McLuhan schreibt:
Physiologically, man in the normal use of technology (or his variously extended body) is perpetually modified by it and in turn finds ever new ways of modifying his technology. Man becomes, as it were, the sex organs of the machine world, as the bee of the plant world, enabling it to fecundate and to evolve ever new forms. (S. 57)
Der Mensch und die Maschine verändern einander und entwickeln sich immer weiter. Wie ist denn der der Stand unserer Körper in der symbiotischen Beziehung mit der Maschinenwelt?
Unsere Vergangenheit, unser Gedächtnis, unsere Stimmen und unsere Beziehungen, unser Raumgefühl und unser Sicherheitsgefühl werden an die Maschine ausgelagert. Wir müssen höflich und deutlich sprechen, um verstanden zu werden. Wir bewegen uns weniger und unsere Bewegungen sind weniger komplex. Wir bewegen nicht einmal mehr unsere Augen so richtig, und die körperliche Ausdruckskraft, die früher ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation war, ist an die Expressivität der Maschine ausgelagert worden. Unsere Welt strukturiert unsere Körperbewegungen nicht mehr wie früher, die körperliche Interaktion ist weniger reichhaltig, weniger ausgeprägt und hinterlässt bei uns das Gefühl, dass uns etwas fehlt.
Ist das der einzige Weg? Oder könnten wir unsere technischen Erweiterungen so gestalten, dass sie unsere Körper, unsere Bewegungen, unsere körperliche Ausdruckskraft aktiv mit einbeziehen? Die Choreographie des Alltags könnte dann, statt fader und langweiliger zu werden, aufregend und bereichernd sein.